Schweiz: Ethisch fragwürdige Herztransplantation nach Herz-Kreislauf-Stillstand durchgeführt

Ein unscheinbarer Zusatz in der Statistik für das 1. Quartal 2023 von Swisstransplant belegt, dass erstmals in der Schweiz ein Herz nach DCD, d. h. nach anhaltendem Herz-Kreislauf-Stillstand, transplantiert worden ist. Brisant daran ist der Umstand, dass nach dem fünfminütigen Herzstillstand weder der Hirntod des Spenders noch sein Herztod mit Sicherheit festgestellt werden kann.

Der Jahresbericht 2021 (S. 19, S. 50) von Swisstransplant enthielt schon den Hinweis, dass die Herztransplantationszentren der Schweiz (CHUV Lausanne, Inselspital Bern, Unispital Zürich) sich darauf vorbereiten, Herzentnahmen nach DCD durchzuführen. Nun zeigt die Statistik von Swisstransplant des 1. Quartals 2023, S. 9, dass die erste Transplantation eines Herzens nach DCD bereits durchgeführt worden ist.

DCD (Donation after cardiac death) bedeutet, dass bei Organspendern mit aussichtsloser Prognose im Operationssaal die lebenserhaltenden Geräte abgestellt, der Herz-Kreislauf-Stillstand abgewartet und mit Ultraschall kontrolliert wird. Steht das Herz still, werden in der Schweiz fünf Minuten abgewartet. Danach werden jene Reflexe geprüft, die bei der Hirntoddiagnostik auch durchgeführt werden. Das Problem ist dabei: Die Reflexe sind ohnehin abwesend, da gar kein Blut fliesst. Es ist eine überflüssige Pseudohirntoddiagnostik, die praktisch nur in der Schweiz durchgeführt wird, um vorzugaukeln, dass Organspender nach dem fünfminütigen Herz-Kreislauf-Stillstand hirntot sind. Das ist definitiv nicht der Fall, denn beim Anschluss eines Gerätes, das den Kreislauf z. B. für die Leber wieder mit sauerstoffhaltigem Blut versorgt, muss die Blutzufuhr zum Gehirn aktiv verhindert werden.[1] Das Verfahren nennt man NFP, d. h. normothermische regionale Perfusion. Weshalb die Blutzufuhr zum Gehirn unterbrochen werden muss, erklären die Transplantationsmediziner selbst: Sie wollen damit verhindern, dass die Durchblutung des Gehirns während des Eingriffs wiederhergestellt wird. Würde dies geschehen, könnte es zu einer sogenannten Autoreanimation kommen, das heisst, Funktionen des Gehirns wie z. B. die Schmerzempfindung könnten zurückkehren.[2] Damit ist auch bewiesen, dass das Gehirn nach einem fünfminütigen Herz-Kreislauf-Stillstand doch nicht irreversibel ausgefallen ist. Das Transplantationsgesetz verlangt klar die Irreversibilität des Funktionsausfalls als unverzichtbare Voraussetzung für eine Organentnahme.

Diese Problematik ist in der Schweiz noch kaum diskutiert worden und Swisstransplant behauptet einfach lapidar, die Prozeduren bei der Organentnahme würden den Richtlinien der SAMW (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften) entsprechen.[3] Bei der letzten Änderung der SAMW-Richtlinien im Jahr 2017 wurde die zuvor noch geltende Wartezeit von 10 Minuten heimlich halbiert. Diese Änderung wurde selbst in der Ärztezeitung verschwiegen, obwohl weniger wichtige Modifikationen in einer Medienmitteilung kommuniziert wurden. Die Halbierung auf 5 Minuten diente vorrangig dem Ziel, frischere Organe zu bekommen und machte letztlich auch der Herzentnahme nach DCD den Weg frei. Interpellationen zum Thema (19. 4569 und 20.3784) wurden durch den Bundesrat ausweichend und hochnäsig beantwortet. Dabei ist zu bedenken, dass selbst Fachleute aus Medizin und Ethik, die grundsätzlich Befürworter der Organtransplantation sind, seit dem Aufkommen der ersten experimentellen Herzentnahmen nach DCD in renommierten wissenschaftlichen Fachzeitschriften massive Kritik äussern.

Fundierte Kritik an der Todesfeststellung nach Herz-Kreislaufstillstand
Beispielsweise forderte im Jahr 2021 die «American College of Physicians» (ACP), die weltweit grösste Vereinigung von Allgemeinmedizinern, in einem Statement den Stopp der normothermischen Perfusion von Organen nach DCD. Das führte zu einer Diskussion im «American Journal of Transplantation». Die jüngste Antwort führender Fachleute aus dem Ethikkomitee der ACP bringt die Angelegenheit in aller Kürze auf den Punkt: «Bei der NRP wird der Kreislauf des Spenders mit dessen eigenem Blut wieder in Gang gesetzt, nachdem der irreversible Kreislauftod festgestellt wurde. Dieser Neustart macht die Erklärung (Todeserklärung, Red.) jedoch ungültig, da er das für irreversibel erklärte Ergebnis rückgängig macht. Und da der Hirntod nicht eingetreten ist (sic!), umfasst die NFP aktive Schritte (Ligatur oder Ballonverschluss), um die Durchblutung des Gehirns zu verhindern.»[4]

Die Kritik ist nicht neu, sondern wurde schon im Jahr 2016 durch die Ethikerin A. L. Dalle Ave und den Neurologen J. L. Bernat erhoben.[5] Diese hatten in einem bemerkenswerten Artikel aus demselben Jahr den in der Schweiz praktizierten Test nach Herz-Kreislaufstillstand, bei dem die gleichen Reflexe wie beim Hirntod geprüft werden, einer grundlegenden Kritik unterzogen. «Der Hirntodtest beweist zwar den Ausfall der getesteten Hirnfunktionen, aber nicht, dass der Ausfall irreversibel ist. Eine Stand-off-Periode von 5 bis 10 Minuten reicht nicht aus, um das Erfordernis der Irreversibilität des Hirntodes zu erfüllen», erklären die beiden Autoren. Sie vermuten, dass die SAMW diesen Pseudohirntodtest aus zwei Gründen eingeführt hat: «(1) um die Konsistenz bei der Feststellung des Todes zu wahren, indem sie das im schweizerischen Recht geforderte Einzelhirnkriterium anwendet, und (2) um zu zeigen, dass der Kreislaufstillstand lange genug andauerte, um die prüfbaren Hirnfunktionen auszuschalten. Die Feststellung des Hirntods anhand dieser Tests ist jedoch ungültig, da die beschriebenen Tests keine Irreversibilität nachweisen können.»[6]

Die Organentnahme ohne sichere Todesfeststellung widerspricht sicher der Menschenwürde, die in Art. 119a Abs. 1 der Bundesverfassung verankert ist. Zudem heisst es in Art. 9 Abs. 1 des Transplantationsgesetzes: «Der Mensch ist tot, wenn die Funktionen seines Hirns einschliesslich des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind.» Das ist ganz offensichtlich bei DCD nicht der Fall. Wohl deshalb passt Swisstransplant die Begriffe sukzessive an. Seit einigen Jahren bezeichnet Swisstransplant DCD als «Spende im Hirntod nach Herz-Kreislauf-Stillstand», obwohl dieser Begriff im Gegensatz zur Abkürzung DCD in den medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW von 2017 überhaupt nicht verwendet wird. Er suggeriert auf perfide Weise, dass vor der Organentnahme nach DCD der Hirntod eingetreten ist und die Funktionen des Gehirns irreversibel ausgefallen sind, was ganz offensichtlich nicht der Fall ist.

Die Herzentnahme nach DCD

Wie die Herzentnahme nach DCD in der Schweiz genau durchgeführt wird, ist nicht im Detail bekannt. Swisstransplant hat wohl vorsorglich einige Erklärungen publiziert, die allerdings nicht ins Detail gehen. Es wird einzig erklärt, dass für die Durchblutung des entnommenen Herzens eine komplexe Maschine (TransMedics® OCS, Organ Care System) eingesetzt wird. Darin wird 1,5 Liter Blut des Organspenders einem Kreislauf unterworfen, indem es mit Sauerstoff angereichert wird und das entnommene Herz versorgt. Deswegen beginnt das Herz – man höre und staune – nach einigen Minuten von selbst wieder zu schlagen.

Wie läuft eine solche Organentnahme nach DCD ab? Das beschreiben einige Autoren recht ausführlich:

Nach den 5 Minuten Wartezeit «wird der Brustkorb innerhalb von 2 bis 3 Minuten schnell geöffnet, die Sternumränder (Spaltung und Auseinanderziehen des Brustbeines, Red.) werden mit einem Retraktor auseinander gezogen und der Herzbeutel wird eröffnet. Eine grosse Venenkanüle wird in den rechten Vorhof eingeführt, und 1200–1500 ml Spenderblut werden aus der rechten Vorhofkanüle in einem vorheparinisierten Beutel entnommen, um das OCS-Gerät (Organ Care System) für den Eingriff vorzubereiten. Gleichzeitig wird die OCS-Maschine vorbereitet, indem das OCS-Modul ausgepackt und in die OCS-Maschine eingebaut wird, wo es bereit ist, das Spenderherz aufzunehmen, wenn es eintrifft. Nach der Entnahme des Spenderbluts wird eine Kardioplegiekanüle (Kardioplegie=Herzlähmung) hoch in die aufsteigende Aorta eingeführt. Die Aorta wird abgeklemmt und 1000 ml Del-Nido-Kardioplegielösung mit einem Druck von 150 mmHg in Verbindung mit lokaler Hypothermie, die mit Eiswürfeln Perikardbeutel aufrechterhalten wird, verabreicht. Die Entnahme des Spenderherzens erfolgt ähnlich wie bei der DBD-Entnahme, erfordert jedoch mehr Sorgfalt, da das Herz nicht vorher mobilisiert wurde und nach der Verabreichung der Kardioplegie schlaff ist, was das Risiko einer Verletzung der Vena cava superior und inferior, der Lungenvenen sowie der Haupt- und rechten Lungenarterien erhöht. […] Durch Anschluss der Aortenkanüle an das OCS-Gerät wird die Koronardurchblutung auf 37℃ eingestellt, und nach einigen Minuten beginnt das Herz normalerweise zu schlagen.» [7]

Ein Fall für den Staatsanwalt?

Erst mit dem Abklemmen der Aorta wird bei dieser Prozedur der Hirntod beim Organspender sichergestellt. In der Öffentlichkeit ist dieses ethisch höchst brisante Verfahren bisher nicht diskutiert worden. Der offizielle Organspendeausweis von Swisstransplant wies bis Ende 2022 nicht einmal auf die fünfminütige Wartezeit nach Herz-Kreislauf-Stillstand hin. Auch die neue Fassung suggeriert, der Tod könne schon nach fünf Minuten zweifelsfrei festgestellt werden. Die Beschreibung der Hirntoddiagnostik bezieht sich auf beide Organentnahmearten nach DCD und klassischen Hirntod (DBD). Es besteht beim Ausweis auch keine Möglichkeit, die Organentnahme nach DBD zu erlauben und nach DCD abzulehnen.

Durch die klammheimliche Einführung der Herzentnahme nach DCD werden einmal mehr potenzielle Organspender und -spenderinnen durch Swisstransplant vor vollendete Tatsachen gestellt. Völlig ahnungslos geben sie mit ihrem Ja im Spenderausweis implizit auch die Zustimmung zu einer allfälligen Herzentnahme nach DCD, die während ihres Sterbeprozesses erfolgt.

Die genannten Unsicherheiten in der Todesfeststellung sind an sich seit Jahren bekannt, doch die Problematik zeigt sich nun in ihrer ganzen Schärfe bei der Herzentnahme nach DCD. Sämtliche DCD-Organentnahmen in der Schweiz müssen umgehend eingestellt werden. Es ist von Neurologen, die von der Transplantationsmedizin unabhängig sind, zusammen mit der Justiz abzuklären, ob die Organentnahme nach DCD wirklich verfassungs- und gesetzeskonform ist. Von daher gesehen müsste die Staatsanwaltschaft von sich aus diese Herzentnahme nach DCD als ausserordentlichen Todesfall im Sinne eines grobfahrlässigen, allenfalls sogar eventualvorsätzlichen Behandlungsfehlers untersuchen.

TransMedics® OCS im Betrieb – Video des Herstellers

Link zum aktuellen Organspendeausweis von Swisstransplant

Angaben im aktuellen Organspendeausweis von Swisstransplant:

Beschreibung der DCD:
«Nach dem Behandlungsende verlangsamt sich der Herzschlag, bis der Kreislauf ganz stillsteht. Eine Ultraschall-Untersuchung des Herzens muss dies bestätigen. Ohne Kreislauf wird das Gehirn nicht mehr mit Blut versorgt. Es verliert seine Funktionen, die Person stirbt. Fünf Minuten nach dem letzten Herzschlag muss der Tod festgestellt werden.»

Feststellung des Todes:
«Bevor einer verstorbenen Person Organe entnommen werden, muss ihr Tod zweifelsfrei festgestellt worden sein. Dazu müssen zwei Ärztinnen oder Ärzte mit Spezialausbildung nachweisen, dass die Funktionen des Gehirns und des Hirnstamms ausgefallen sind (man spricht auch von der Hirntoddiagnostik).»

Dieser Artikel erscheint auch online unter www.swiss-cath.ch und wird im nächsten HLI-Report 118 abgedruckt.


[1] Swiss Donation Pathway, Modul IX – Erkennung, Meldung und Behandlung eines DCD-Spenders, S- 18: «Bei der Organentnahme unter normothermischer regionaler Perfusion erfolgt nach Feststellung des Todes eine Kanülierung der arteriellen und venösen Femoralgefässe. Anschliessend wird in der Aorta thoracica descendens ein intraaortaler Ballon platziert. Dies dient zur Durchblutung der abdominellen Organe, zur Verhinderung der Reperfusion des Gehirns und zur Begrenzung ischämiebedingter Zellschädigungen, wodurch die Transplantatqualität erhöht wird» (Hervorhebung durch Autor). Siehe: https://www.swisstransplant.org/de/fuer-fachpersonal/ausbildung/standard-titel

[2] Lomero M. et al., Donation after circulatory death today: an updated overview of the European landscape. Transpl Int 33 (2020) 76-88, hier 85: «One of the main concerns regarding the use of nRP in cDCD is the risk of restoring circulation to the brain during the procedure. To minimize the occurrence of such events, the aorta is blocked with an intraluminal balloon or is subject to surgical clamping or vessel ligation. In Spain, a procedure is in place for the early identification of failure to properly block the aorta and immediately halt the procedure to avoid cases of autoresuscitation.» https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/tri.13506

[3] Reichmuth Alex, Organspende: Kommen Lebende unters Messer? Nebelspalter vom 26. Jan. 2022, https://www.nebelspalter.ch/organspende-kommen-lebende-unter-das-messer

Reichmuth Alex, In der Schweiz soll es umstrittene Herzspenden geben. Nebelspalter vom 3. März 2023, https://www.nebelspalter.ch/in-der-schweiz-soll-es-umstrittene-herzspenden-geben

[4] Opole I.O., Deep N.N., Snyder Sulmasy L., On the ethics of NRP and the American College of Physicians NRP statement. Am J Transplant 22 (2022) 1725-1726, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/ajt.17014

[5] Dalle Ave A.L., Shaw D.M., Bernat J.L., Ethical Issues in the Use of Extracorporeal Membrane Oxygenation in Controlled Donation After Circulatory Determination of Death. Am J Transplant 16 (2016) 2293-2229, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/ajt.13792.

[6] Dalle Ave A.L., Bernat J.L., Using the brain criterion in organ donation after the circulatory determination of death. J Crit Care 33 (2016) 114-118, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S088394411600006X?via%3Dihub.

[7] Mohammad Alomari, Pankaj Garg, John H Yazji, Ishaq J Wadiwala, Emad Alamouti-fard, Md Walid Akram Hussain, Mohamed S Elawady, Samuel Jacob, Is the Organ Care System (OCS) Still the First Choice With Emerging New Strategies for Donation After Circulatory Death (DCD) in Heart Transplant?. Cureus 14 (2022) e26281. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9229932/

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