Die schlechte Lehre vom guten Zweck

Die schlechte Lehre vom guten Zweck

Der korrumpierende Kalkül hinter der Schein-Debatte·Von Robert Spaemann

FAZ, Samstag, 23. Oktober 1999, Nummer 247 · I

 Im Jahr 1952 verurteilte der Bundesgerichtshof zwei Ärzte wegen Beihilfe zum Mord. Die Ärzte hatten im Jahr 1941 bei der Durchführung der staatlich angeordneten massenhaften „Euthanasie“ an Geisteskranken mitgewirkt. Sie hatten Kranke in Verlegungslisten eingetragen und damit für die Tötung freigegeben. Vor Gericht machten sie unwidersprochen geltend, dass sie bei der Tötungsaktion nur deshalb mitgewirkt hatten, weil sie einen Teil der Kranken retten wollten, die von der Ermordung bedroht waren. Tatsächlich hatten sie unter Überschreitung der dafür gegebenen Richtlinien etwa fünfundzwanzig Prozent der Kranken von den Verlegungslisten abgesetzt. Andere Kranke bewahrten sie vor dem Vergasungstod, indem sie sie entließen oder in konfessionellen Anstalten unterbrachten.

Von den unteren Instanzen waren die Ärzte auf Grund dieser Tatmotive freige- sprochen worden. Der Bundesgerichtshof hob den Freispruch auf. In der Urteilsbegründung führte er Folgendes aus: „Der herrschenden, von der christlichen Sittenlehre her bestimmten Kulturanschauung über Wesen und Persönlichkeit des Menschen widerspricht es, den für die Erhaltung von Sachwerten angemessenen Grundsatz des kleineren Übels anzuwenden und den rechtlichen Unwert der Tat nach dem sozialen Gesamtergebnis abzuwägen, wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen.“ Die Angeklagten hätten sich „durch Nichtbeteiligung an der Tötung Geisteskranker um den Preis der völligen Einflusslosigkeit auf den Umfang dieser Vernichtungsmaßnahmen nicht in Widerspruch zu den damaligen Anschauungen verantwortungsbewusster Ärzte gesetzt“. Denn solche haben, wie das Urteil feststellt, in vielen Fällen lieber ihre Stellung als Anstaltsärzte aufgegeben, als an der Tötung unschuldiger Menschen auch nur in entferntester Weise mitzuwirken.

Die Zeiten haben sich geändert. Die „herrschende Kulturanschauung“ wird nicht mehr von der christlichen Sittenlehre, die übrigens in dieser Hinsicht auch die jüdische, griechische und römische war, bestimmt. Ein großer Teil der berufenen Übermittler dieser Lehre weigert sich nämlich, sie weiter zu tradieren. Die Ärzte, die sich damals aus der wenn auch noch so entfernten Mitwirkung am Tötungsgeschäft zurückzogen und auf weiteren Einfluss verzichteten, würden heute von manchen katholischen Bischöfen unseres Landes getadelt werden, weil ihnen offenbar an ihrer „weißen Weste“ mehr gelegen sei als an der Rettung der größtmöglichen Zahl von Bedrohten und an der Senkung der Tötungsziffern. Und das „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“ würde sie sogar wegen ihres unverantwortlichen Ausstiegs des Verbrechens der unterlassenen Hilfeleistung bezichtigen. Der Papst, einer der letzten Verteidiger einer zweieinhalb Jahrtausende alten Ethik, muss sich von einigen deutschen Bischöfen fragen lassen, wie er es verantworten könne, Tausende von Ungeborenen dem Tod preiszugeben.

Die klassische Antwort auf dieser Frage ist klar: Niemand hat die Verantwortung für etwas, das ohne sein Zutun geschieht und das er nur verhindern könnte, wenn er etwas täte, das zu tun dem Menschen nicht zusteht.

Gebot der unbedingten Unterlassung

Jeder wird einsehen, dass ein Mensch nicht wegen der Unterlassung einer Handlung getadelt werden kann, die ihm physisch nicht möglich war, etwa weil er keine Hände hatte. Die europäische – und nicht nur die europäische – Auffassung war es immer, dass es Handlungen gibt, die uns moralisch nicht möglich sind. Es gibt keine Verantwortung für das, was geschieht, wenn wir es nicht durch solche Handlungen verhindern können. Die Ärzte, die aus dem Euthanasiegeschäft ausstiegen, fanden, dass sie keine Hände hätten zur Ausfüllung von Verlegungslisten. Der altrömische Gesetzgeber hatte dafür die klassische Formel: „Handlungen, die gegen die guten Sitten verstoßen, müssen als solche betrachtet werden, die auszuführen uns unmöglich ist“ (Digesten XXVII). Man könnte die Quintessenz dieser Auffassung auf die volkstümliche Formel bringen, dass der gute Zweck nicht schlechte Mittel heiligt.

Diese Auffassung wird von ihren neuen Gegnern als ethischer Fundamentalismus bezeichnet. Ethischer Fundamentalist ist danach der, für den es irgendwas gibt, das auch für die besten Zwecke nicht zur Disposition steht.

Die erste große literarische Patronin dieses „Fundamentalismus“ in Europa ist für immer Antigone, die ihre im Unvordenklichen gründende Pflicht, den Bruder zu begraben, nicht zur Disposition der Staatsraison stellt. Die klassische philosophische Ethik, die ins Christentum von dessen Anfängen an integriert wurde, differenzierte hier. Ob eine Handlung gut ist, hängt nicht nur von dem Handlungstypus, sondern auch von den Umständen, den Nebenfolgen, den zur Verfügung stehenden Alternativen und von den Absichten und Motiven des Handelnden ab. Es gibt aber Handlungen, deren Verwerflichkeit auch ohne Kenntnis der Umstände und der Absichten des Handelnden erkennbar ist. Sie sind immer schlecht. und eine Absicht, die ein gutes Ziel mithilfe solcher Handlungen zu erreichen sucht, ist eben keine gute, sondern eine schlechte Absicht. Der gute Zweck heiligt nicht das schlechte Mittel.

Darum gibt es keine unbedingten, ohne Ansehung der Umstände geltenden Handlungsgebote, wohl aber unbedingte Unterlassungsgebote: Es gibt Dinge, die ein Mensch zu tun nicht imstande sein soll. „Dieser Mensch ist zu allem fähig“ ist zwar für totalitäre Regierungen und für Mafiabanden eine Empfehlung. Für normale Menschen ist es eine Warnung. Und so auch für die klassische philosophische Ethik, für Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant oder Hegel.

Sie als „Gesinnungsethik“ im Sinne Max Webers der „Verantwortungsethik“ entgegenzustellen verfehlt den Punkt. Die Frage ist nicht, ob wir Verantwortung für die Folgen unserer Handlungen und Unterlassungen tragen, sondern worauf sich diese Verantwortung bezieht und wie weit sie reicht. Darum ist auch der Begriff „teleologische Ethik“ ungeeignet als Kennzeichnung eines Unterschieds. Jede Ethik ist insofern teleologisch, als sie sich auf Handlungen bezieht, die immer teleologisch sind, das heißt einen Zweck haben. Die Unbedingtheit bestimmter Unterlassungspflichten beruht darauf, dass wir eine vorrangige Verantwortung für diejenigen Folgen haben, durch die unsere jeweilige Handlung definiert ist, sowie für diejenigen, die von diesen unmittelbaren Wirkungen betroffen sind. Bestimmte Handlungen aber sind, unabhängig von ihren ferneren Folgen, mit dieser Verantwortung unvereinbar. Die Handlung der Ärzte, jemanden auf die Tötungsliste zu setzen, betraf unmittelbar die zu Tötenden. Darum war sie unverantwortlich, auch wenn sie die Bedingung dafür war, dass andere gerettet werden konnten.

Auf dieser Unterscheidung beruht es, dass die Unterlassung einer verwerflichen Handlung von anderer Unbedingtheit ist als die Pflicht, eine solche Handlung zu verhindern oder zu bekämpfen. Wer die Abtreibung als verwerflich betrachtet, darf nicht Beihilfe zu ihr leisten. Die Pflicht des Staates, sie zu verhindern, ist zwar hochrangig angesiedelt, und unsere Gesetzgebung genügt ihr offenkundig nicht. Dennoch ist diese Pflicht, als Handlungspflicht, nicht von der gleichen Unbedingtheit wie die Unterlassungspflicht. Die Handlungspflicht unterliegt immer einer Abwägung, bei der der Gedanke des geringeren Übels jenen legitimen Platz hat, den er bei der Unterlassungspflicht nicht haben kann.

Max Weber hat das am Beispiel des Pazifisten klargemacht. Wer jede Tötung, auch im Krieg, für verwerflich hält, ist gerechtfertigt, wenn er den Dienst mit, der Waffe verweigert. Weber hatte – im Unterschied zu denen, die heute im Gedränge der Verantwortungsethiker einander auf die Fuße treten – vor dem „Gesinnungsethiker“ größten Respekt, solange er nicht politisch wird: Wer nicht nur den Wehrdienst verweigert, sondern die Verweigerung organisiert, übernimmt die Verantwortung für die Folgen, denn nun ist er Täter. Wenn es ihm nur gelingt, die Wehrkraft des eigenen Landes zu schwächen, ohne sie doch gänzlich zu beseitigen, dann kann er mit schuld am Ausbruch eines Krieges sein so wie die westlichen Friedensbewegungen vor dem Zweiten Weltkrieg. Das war der Sinn der Weberschen Unterscheidung.

Als Thomas Morus von seinem Amt als Kanzler zurücktrat und ins Privatleben zurückkehrte, folgte er genau diesem Prinzip. Die Trennung der Kirche Englands von der römischen Kirche hielt er für verwerflich. Er wollte daran auf keine Weise mitwirken. Er fühlte sich aber nicht verpflichtet, als Politiker aktiv dagegen zu arbeiten, zumal er die Aussichtslosigkeit eines solchen Versuchs erkannte. Und beim Handeln kommt es immer auch auf die Erfolgsaussicht an. Thomas Morus war nicht an einem vergeblichen Selbstmordkommando interessiert. Wenn er dann doch hingerichtet wurde, dann deshalb, weil man ihn auch als Privatmann nicht in Frieden ließ, sondern von ihm ein Bekenntnis erwartete, das mit seinem Gewissen unvereinbar war. Er fühlte sich nicht zum Helden berufen, der für eine Handlung stirbt. 

Die strategische Ethik ist keine

Aber er war bereit zu sterben, wenn dies der unvermeidliche Preis für die Unterlassung von etwas war, was er als verwerflich ansah. Und er ließ sich davon auch nicht durch den Hinweis seiner Tochter abbringen, dass schließlich alle Bischöfe Englands mit Ausnahme eines einzigen diese Verwerflichkeit nicht sähen. Er beriet sich auf den umfassenderen Konsens der Christenheit der die letzten anderthalb Jahrtausende einschloss.

Dieser Konsens ist, was die Definition von guten und schlechten Handlungen betrifft, im Bereich der philosophischen Ethik seit mehr als hundert Jahren zerbrochen. Innerhalb der christlichen Sittenlehre seit fast ebenso langer Zeit, innerhalb der katholischen Moraltheologie seit wenigen Jahrzehnten. Den Gründen dafür nachzugehen ist hier nicht der Platz. Die Tatsache, dass in der Debatte um den Beratungsschein beide Seiten einander Missachtung menschlichen Lebens vorwerfen – einmal als Beihilfe zur Tötung, einmal als unterlassene Hilfeleistung -, lässt diesen Bruch nun offen zutage treten, ohne dass die Kontrahenten ihn beim Namen nennen.

Man mag den Unterschied vielleicht am besten von Kant her deutlich machen, auch wenn Kant nicht in jeder Hinsicht als Repräsentant der klassischen Ethik betrachtet werden kann. Kant schlägt vor, Handlungen daraufhin zu betrachten, ob man sie als Teil einer menschenwürdigen Gesamtordnung des Lebens vorstellen kann. Die neue Ethik schlägt vor zu fragen, ob seine Handlung geeignet ist, einen solchen menschenwürdigen Zustand der Dinge herbeizuführen. Die Griechen nannten, was wir gute Handlungen nennen, „schöne“ Handlungen, also solche, die in sich selbst richtig verfasst und daher mögliche Teile einer richtigen Lebensordnung sind. Die neue Ethik nennt eine Handlung dann gut, wenn die Gesamtheit ihrer Folgen wünschenswerter ist als die Gesamtheit der Folgen jeder zur Verfügung stehenden alternativen Handlung.

Die neue Ethik beurteilt Handlungen als Teile einer Strategie. Sittliches Handeln ist demnach strategisches Handeln. Diese Denkform – der übliche Name dafür war zunächst „Utilitarismus“ – entstammt dem politischen Denken. Bentham, der Vater des Utilitarismus, hatte dabei die Gesellschaftspolitik im Auge. Und da ist auch der legitime Ort dieser Denkweise. Die Politik ist immer utilitaristisch. Wenn es Grenzen des Utilitarismus gibt, dann sind es Grenzen der Politik, ethische Grenzen.

Bentham glaubte auch, über eine eindeutige Nutzenfunktion zu verfügen, nämlich pleasure, möglichst großes subjektives Wohlbefinden möglichst vieler. Wenn J. St. Mill dann qualitative Kriterien solchen Wohlbefindens einführen und lieber ein unglücklicher Sokrates als ein glückliches Schwein sein wollte, dann war das schon ein Schritt über den politischen Utilitarismus hinaus. G. E. Moore hat dann grundsätzlich den hedonistischen Maßstab der utilitaristischen Nutzenfunktion in Frage gestellt und als Ziel der ethischen Strategie die Vermehrung des Wertgehaltes der Welt angenommen.

Dieser „ideal utilitarianism“ war es dann, der in den sechziger Jahren der katholischen Moraltheologie die konsequenzialistische Wende herbeiführte und unter dem irreführenden Begriff einer „teleologischen Ethik“, dem strategischen Moralverständnis zum Durchbruch verhalf. Ehe dieser Durchbruch in der deutschen „ScheinDebatte“ den ersten soziologisch relevanten dramatischen Ausdruck fand, wurde er dem Aufmerksamen in unscheinbaren Manifestationen erkennbar. So wenn etwa zunehmend in kirchlichen Gebeten als Gabe Gottes nicht mehr erbeten wird, dass es uns gegeben sein möge, gerecht, friedlich und mutig zu sein, sondern uns für Gerechtigkeit, Frieden, Menschenrechte und so weiter „einzusetzen“, was man ja durchaus tun kann, ohne selbst diese Tugenden zu besitzen. Im Licht der strategischen Ethik erscheint die Sorge um das eigene Seelenheil, die der antiken Philosophie ebenso am Herzen lag wie dem Christentum, als eine Form von geistigem oder geistlichem Egoismus. 

Reine Weste als moralischer Egoismus?

Jean-Paul Sartre hat diesen Vorwurf gegen das Interesse an der „reinen Weste“ immer wieder und zuletzt in den nachgelassenen „Cahiers pour une morale“ erhoben. Er hat ihn allerdings auf Atheisten beschränkt. Sie haben die Pflicht zum radikalen Konsequenzialismus. Niemand kann ihnen die Verantwortung für die Optimierung der Welt abnehmen. Und wer dieses Ziel verfolgt, für den gilt Lenins Wort: „Uns ist alles erlaubt.“ Anderes gilt, so schreibt Sartre für die Gläubigen. Sie wissen erstens das Schicksal der Welt in Gottes Hand. Wenn sie versuchen, nach dem Wort des Apostels Paulus „sich unbefleckt zu bewahren von dieser Welt“, dann ist das nicht moralischer Egoismus, da sie eine Verantwortung für ihr eigenes Leben gegenüber Gott haben. Wenn sie „schön“ zu handeln versuchen, ist das Wahrnehmung dieser Verantwortung. Mir scheint, Sartre hat besser als mancher Theologe verstanden, was die moralischen Konsequenzen des Glaubens an Gott sind.

Noch einmal zu dem aktuell viel diskutierten Beispiel der konsequenzialistischen Denkweise, zur Argumentation für den Konfliktberatungsschein. Es scheint, es gehe in erster Linie um die Rettung von Menschenleben, und zwar durch die Bindung strafloser Abtreibung an eine vorhergehende Beratung. Und dann auch darum, „die Frauen nicht im Stich zu lassen“, sondern ihnen, wenn sie es denn wollen, den Weg zur Abtreibung auch tatsächlich zu eröffnen. Offenbar sind das zwei verschiedene Ziele, die kunstvoll miteinander verzahnt sind. Aber wo steht geschrieben, dass die Kirche in erster Linie an der Verhinderung vorzeitigen Sterbens interessiert sein muss? Das erste Interesse der Kirche ist das „Seelenheil“, nicht das „Lebensrecht“ das zu schützen Aufgabe des Staates ist. Indem er diesen Schutz an die Kirche delegiert werden beide korrumpiert. In der kirchlichen Beratung kann es gar nicht in erster Linie um die Kinder, es muss um die Frauen gehen. Vorzeitiges Sterben gibt es sub specie aeternitatis sowieso nicht. Wohl aber gibt es den spirituellen Selbstmord durch Töten. Im Stich lässt derjenige eine Frau, der ihr bei diesem Selbstmord behilflich ist. Der künftige kirchliche Euthanasieschein ist hier schon programmiert. Das alles gilt jedenfalls, wenn Abtreibung das ist, wofür Christen sie halten.

Es ist das Christentum, das die Einsicht des Sokrates, die seinen Zeitgenossen als Skandal erschien, für zwei Jahrtausende zum Allgemeingut gemacht hat: die Einsicht, dass Unrecht tun schlimmer – für den Täter schlimmer – ist, als Unrecht leiden.

Der Konsequenzialismus ist in der gegenwärtigen katholisch-theologischen Ethik in Deutschland immer noch das herrschende Paradigma, obwohl Papst Johannes Paul II. diesen Ethiktypus in seiner Enzyklika „Veritatis splendor“ einer ausführlichen Kritik unterzogen und als unvereinbar mit der christlichen Lehre bezeichnet hat. Die Unvereinbarkeit beider Moralen wurde auf exemplarische Weise sichtbar in dem zwischenzeitlich geplanten und nun wieder verworfenen neuen Beratungsschein, auf dem geschrieben stehen sollte, dass er nicht zur straffreien Abtreibung verwendet werden kann, während die Aussteller des Scheins den Staat zu verklagen drohten, falls er diesen Satz ernst nimmt und den kirchlichen Schein nicht mehr als Abtreibungsschein anerkennt. Der öffentliche Spott konnte nicht ausbleiben. Aber dieser Spott und die Proteste von fast allen Seiten haben den Blick für die Tragik der Sache verstellt, nämlich für das Scheitern des Versuchs, zwei unvereinbare Formen von Ethik zusammenzuzwingen.

In der philosophischen Diskussion muss der Konsequenzialismus seit längerem als überwunden gelten. Dieses Modell ist nicht imstande, unsere elementaren sittlichen Intuitionen theoretisch zu formulieren. So hat schon John Rawls gezeigt, dass sich die Forderung nach Gerechtigkeit konsequenzialistisch nicht begründen lässt. Die Folgen einer Gesetzgebung können unter Umständen für die meisten sehr vorteilhaft sein, während eine Minderheit durch diese Gesetzgebung entrechtet wird. Der Einwand, dieser Vorteil könnte kein echter Vorteil sein, weil er von moralischer Korruption begleitet ist, greift nicht. Der Konsequenzialismus kann nämlich nur außersittliche Werte in seinen Kalkül aufnehmen. Sonst würde er zirkulär argumentieren müssen: Sittlich gut ist, was das sittliche Gut fördert.

Eine weitere Schwäche dieser strategischen Ethik liegt darin, dass wir nicht über genügend Wissen verfügen, um langfristige Optimierung beurteilen zu können. Die Futurologen aber, die über die Zukunft mehr zu wissen glauben als gewöhnliche Menschen, müssten verlangen, dass die gewöhnlichen Menschen ihr Gewissen an sie abtreten. Der Konsequenzialismus ist eine moralische Entmündigung der gewöhnlichen Menschen. Wieder ist der „Schein“ ein gutes Beispiel. Beihilfe zur Abtreibung dient vielleicht zur Verhinderung anderer Abtreibungen. Aber vielleicht – und sogar wahrscheinlich – dient die Ausstellung des Scheins durch Christen der Schwächung des Unrechtsbewusstseins und hilft so auf die Länge, Abtreibungen zu vermehren. Und dies auch dadurch, dass sie dem Staat die verfassungsrechtliche Schutzpflicht abnimmt. In der Regel sind Konsequentialisten denn auch inkonsequent. Sie hören mit der Übernahme von Verantwortung für weitreichende Folgen einfach dezisionistisch irgendwo auf.

Der Konsequentialismus kann seine eigenen Konsequenzen nicht verantworten. Dieser innere Widerspruch, den zum Beispiel Julian Nida-Rümelin in seiner „Kritik des Konsequentialismus“ (1993) mit mathematischer Präzision herausgearbeitet hat, ist seine Widerlegung. Wenn die Gesellschaft aus lauter Privatstrategen bestünde, die ihr kommunikatives Handeln, ihr Halten von Versprechen und so weiter einem Optimierungskalkül unterwerfen, ginge nichts mehr. Im Übrigen fördert der Konsequentialismus Erpressungen. Ein Konsequentialist muss immer bereit sein. einen Mord zu begehen, wenn man ihm droht, ansonsten zehn Menschen umzubringen. Aber nur einem Konsequentialisten kann man damit drohen.

Und noch einmal ist der „Schein“ ein Beispiel. Man versucht, die Kirche zu erpressen mit der Drohung, ohne ihre Mitwirkung würden mehr Kinder sterben. Wer den konsequentialistisch deformierten Begriff von Verantwortung teilt, muss dieser Erpressung nachgeben. In Wirklichkeit aber kann kein Mensch auf die Länge mit diesem Begriff von Verantwortung leben, ohne sich einerseits moralisch zu korrumpieren und ohne sich andererseits permanent zu überfordern. Wenn es unsere Pflicht ist, immer einem Optimierungsprogramm zu folgen, dürfen wir übrigens auch fast nichts mehr einfach tun, weil es uns Freude macht, und jede Kreativität wird durch diesen Kalkül erdrosselt. Wenn irgendwo, dann gilt hier, dass das Bessere der Feind des Guten ist. Wenn gut immer nur das unter dem Gesichtspunkt der Folgen Bestmögliche ist, kommen wir vor lauter Überlegen nicht mehr zum Handeln.

Der Apostel Paulus verwirft im Römerbrief die Maxime: „Lasst uns Böses tun, damit Gutes daraus folgt.“ Konsequentialisten fühlen sich davon nicht getroffen. Sie vertreten vielmehr die These, dass es das, was Paulus da verurteilt, gar nicht gibt. Sie haben nämlich Gut und Böse umdefiniert: Sittlich gut ist, woraus Gutes folgt. Mephistos Satz „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ würde nur zutreffen auf solche, die nicht wissen, dass sie das Gute schaffen. Mephisto, der es weiß – denn er sagt es ja -, ist eo ipso gut.

Aristoteles hat eine begriffliche Unterscheidung eingeführt, deren Tragweite nicht leicht überschätzt werden kann, die Untersuchung zwischen poiesis und praxis, zwischen Machen und Handeln. Machen hat den Maßstab seiner Richtigkeit in etwas außerhalb seiner selbst, in einem Gegenstand, der hergestellt, oder in einem Zustand, der herbeigeführt wird, Die Richtigkeit des Handelns dagegen liegt in ihm selbst, in seiner Angemessenheit an die Situation, in seinem Eingelassensein in sittliche Verhältnisse, in seiner „Schönheit“. Die Richtigkeit des Machens wird von der „Kunst“ beurteilt, die auf Griechisch techne heißt, die Richtigkeit des Handelns von der Ethik. Natürlich ist alles Machen seinerseits eingelassen in einem Praxiszusammenhang und deshalb nicht von sittlichen Maßstäben dispensiert.

Was aber, wenn die Ethik selbst sich als Technik zu verstehen beginnt, als Strategie, als Optimierkunst? Dann entfällt die Instanz, die uns bei der Verfolgung unserer Zwecke Grenzen setzt. Es entfällt, was für die Griechen diese Grenze zog: Scham. („Was für ein Gesicht macht man, wenn man so etwas sagt?“, fragt Neoptolemos den Odysseus, der ihm zumutet, den Freund Philoktet durch eine Lüge dem Untergang preiszugeben, um die Griechen vor Troja zu retten.) Es gibt nur noch einen Imperativ: gute Zwecke zweckmäßig zu verfolgen.

Was damit schließlich verschwindet, ist das, was Hegel „sittliche Verhältnisse“ nannte. Zwischen dem, der ein Versprechen gibt, und dem, der es annimmt, entsteht ein solches Verhältnis. Die Pflicht, ein Versprechen zu halten, ergibt sich daraus, dass man es gegeben hat, und es ist eine Pflicht gegen den, dem man es gab. Für den Konsequentialisten gibt es Pflichten gegen einzelne Menschen nur indirekt. Eigentliches Objekt der Moral ist ein allgemeines „Bestes“. Die Möglichkeit, sich auf Versprechen verlassen zu können, ist ein wichtiges Element menschlichen Zusammenlebens. Die Erschütterung dieses Vertrauens schädigt dieses Element. Die Pflicht, Versprechen zu halten, folgt für den Konsequentialisten aus der Optimierungspflicht. Es ist eine Verantwortung für die Erhaltung des wichtigen Instituts des Versprechens. Wer von einem Sterbenden unter vier Augen um ein Versprechen gebeten wird, kann deshalb versprechen, was er will, ohne nach dem Tod des Betreffenden dadurch irgendwie gebunden zu sein. Versprechen und Bruch des Versprechens bleiben ja ohne Folge.

Das ist es zwar nicht, was gewöhnliche Menschen unter Moral verstehen. Aber der Konsequentialist muss es ja auch gut finden, dass gewöhnliche Menschen nicht konsequentialistisch denken. Sie sollen ruhig in der Kategorie sittlicher Verhältnisse denken und normativen Regeln folgen, als ob sie in sich eine Bedeutung hätten. Das kann im Ganzen nur von Vorteil sein. Der konsequentialistische Philosoph oder Theologe aber kennt das Arcanum der Moral, und dieses Wissen erhebt ihn über die gewöhnlichen Menschen.

Ihm ist deshalb im Prinzip „alles erlaubt“. Sittliche Normen sind für ihn von der gleichen Verbindlichkeit wie das Verbot für Fußgänger, bei Rot über die Straße zu gehen. Es sollte in der Regel respektiert werden, aber doch nicht dann, wenn Zuwiderhandlungen – zum Beispiel bei Nacht und ohne Kinder als Zuschauer – folgenlos sind: Beispiel für eine technische Norm, die nur sekundär eine sittliche ist.

Thomas von Aquin hat in seiner „Summa theologica“ ein eindrucksvolles Beispiel für die Gründung sittlicher Normen in dem gegeben, was ich hier im Anschluss an Hegel „sittliche Verhältnisse“ nenne. Er schildert den Fall eines Menschen, der wegen eines Verbrechens gesucht wird. Muss man ihm oder muss man der Polizei helfen? Thomas antwortet: Es kommt auf die konkreten Verantwortlichkeiten an. Der König muss auf den Erfolg der Polizei bedacht sein. Die Frau muss ihrem Mann behilflich sein, sich zu verstecken. Denn sie hat Verantwortung für das „private Wohl der Familie“, der König aber für das „öffentliche Wohl des Staates“. Wenn beide ihre Pflicht tun, müssen sie gegeneinander arbeiten. Aber jeder, das folgt daraus, muss die Pflicht des anderen respektieren. Die Frau darf nicht zur Terroristin werden. Der Richter darf sie nicht wegen „Strafvereitelung“ verfolgen. (So können auch die Pflicht des Staates, Abtreibungen zu minimieren, und die der Kirche, bei keiner mitzuwirken, unterschiedliche Handlungsweisen zur Folge haben.) Das moderne Recht freiheitlicher Staaten folgt übrigens genau dieser Auffassung. Weder der Richter noch die Frau wissen das, was der Konsequentialist zu wissen behaupten muss: was denn wirklich letzten Endes für alle das Beste ist.

Thomas sagt: Das weiß nur Gott. Er allein besorgt das „Wohl des Universums“. Niemand darf Gott spielen. Niemand weiß dazu genug. G. E. Moore, der Begründer des „Wertkonsequentialismus“, hat, wie keiner seiner Nachfolger den utopischen Charakter dieser Theorie eingestanden, wenn er schreibt, dass wir die langfristigen Folgen unserer Handlungen tatsächlich nicht kennen und deshalb als Konsequentialisten gar nicht wissen können, was moralisch gut ist. Es bleibt uns nichts übrig als anzunehmen, dass die kurz- und mittelfristig wohltätigen Folgen auch langfristig wohltätig sind. Aber, so schreibt Moore, wir können nicht einmal behaupten, es sei wahrscheinlich, dass es so ist.

Dass das Gute gute Folgen hat, hielten Kant und Fichte nicht wie die Konsequentialisten für eine analytische Wahrheit, sondern für eine Sache der religiösen Überzeugung, des „Glaubens an eine göttliche Weltregierung“. Statt zu wollen, wovon Gott will, dass es geschieht -und das können wir immer erst nachträglich wissen -, sollen wir, so hatte Thomas geschrieben, das wollen, wovon Er will, dass wir es wollen. Dieses können wir, im Unterschied zu jenem, wissen. Denn darüber belehrt uns die sittliche Vernunft ohne besonderen prognostischen Aufwand.

 

Durch die weitere Nutzung dieser Seite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Schließen