Morgen berät die Ärztekammer, das Parlament der FMH, darüber, ob sie die SAMW-Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod» in das Standesrecht aufnehmen möchte. Bisher wurde nur am Rande in der Öffentlichkeit diskutiert, ob diese neuen Richtlinien den assistierten Suizid sozusagen durch die Hintertür nicht auch für Kinder und Jugendliche grundsätzlich für zulässig erklären. Gegenteilige Beteuerungen der SAMW sind wenig glaubwürdig. Vielmehr muss sie sich in diesem Punkt den Vorwurf gefallen lassen, Ärzteschaft und Öffentlichkeit irrezuführen.
In den im Juni veröffentlichten neuen SAMW-Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod» heisst es auf Seite 8: «Die Richtlinien gelten auch für Kinder und Jugendliche jeglichen Alters sowie für Patienten mit geistiger, psychischer und Mehrfachbehinderung» (Hervorhebung durch HLI). Mit heutigem Datum verschickt die SAMW einen Newsletter, dessen Zweck folgendermassen umschrieben wird: «Das Kapitel zur Suizidhilfe löste bereits im Vorfeld eine engagierte öffentliche Debatte aus. Dabei wurden einige zentrale Punkte der Richtlinien ausgeblendet oder unpräzise widergegeben. In diesem Newsletter finden Sie fünf Kernbotschaften zur Klärung…» Unter Punkt 4 wird im begleitenden Detaildokument dann Folgendes erklärt:
«4. Bei Personen, die nicht urteilsfähig sind, ist Suizidhilfe nicht zulässig.
Der Geltungsbereich der gesamten Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod» betrifft explizit auch die Behandlung und Betreuung von Kindern, Jugendlichen jeglichen Alters sowie Patienten mit geistiger, psychischer oder Mehrfachbehinderung. Dies bedeutet aber nicht, dass gleichzeitig auch Suizidhilfe für diese Patientengruppen zulässig ist. Für Suizidhilfe ist Urteilsfähigkeit eine unabdingbare Voraussetzung; dies verlangen nicht nur die SAMW-Richtlinien, sondern auch das Strafgesetzbuch.»
Ein Teil dieser Aussagen ist falsch oder zumindest irreführend. Zunächst zur Falschaussage
«Dies bedeutet nicht, dass gleichzeitig auch Suizidhilfe für diese Patientengruppen zulässig ist.». Eben doch. Zumindest dann, wenn es sich um urteilsfähige Jugendliche handelt. Denn die Richtlinien machen auch bei Kindern und Jugendlichen den Sterbewunsch nicht von objektiven Umständen wie beispielsweise einem nahe bevorstehenden Tod abhängig («Auch Patienten, bei denen kein medizinisches Leiden als Hauptbeweggrund für den Sterbewunsch vorliegt, können dafür einen Arzt konsultieren, insbesondere weil die gewünschte Form der Suizidhilfe an ein ärztliches Rezept gebunden ist», vgl. Punkt 1 Geltungsbereich der Richtlinien). Ausschlaggebend ist gemäss SAMW-Richtlinien einzig und allein, ob die betroffene Person im Hinblick auf ihren Suizidwunsch urteilsfähig ist, sei es ein Jugendlicher oder eine mündige Person. Gemäss Art. 19c ZGB üben urteilsfähige handlungsunfähige Personen Rechte, die ihnen um ihrer Persönlichkeit willen zustehen, selbständig aus (sog. «höchstpersönliche Rechte»). So ist z.B. eine Abtreibung oder Abgabe von Verhütungsmitteln aus eigenem Entscheid bei Jugendlichen ohne Wissen und Einwilligung der Eltern bereits nach der jetzt üblichen Rechtspraxis sehr wohl möglich. Warum soll dann einem 17-jährigen schwerstbehinderten Jugendlichen, der einen assistierten Suizid wünscht, diesbezüglich nicht Urteilsfähigkeit zugesprochen werden können und seinem Willen stattgegeben werden, da es um sein höchstpersönliches Recht geht?
Es ist zudem mit guten Gründen davon auszugehen, dass das jetzige Recht einen solchen assistierten Suizidwunsch einer urteilsfähigen, noch nicht volljährigen Person zulassen würde. Wenn nun jetzt auch noch die Schutz-Hürde des Standesrechts entfernt wird, steht einem ärztlich begleiteten assistierten Suizid des oben beschriebenen Schwerstbehinderten wohl nichts mehr im Weg. Die Gerichte werden sich u.a. dann genau auf diese SAMW-Richtlinien berufen, welche ja den Suizid für Kinder und Jugendliche ihrerseits als zulässig bezeichnen.
HLI hat den rechtlichen Rahmen gemäss geltendem Recht über die Suizidhilfe bei Minderjährigen in einem Memorandum bei Prof. Dr. iur. Isabelle Häner, Bratschi AG, klären lassen.