Bundesgericht: der Heilsarmee ein Bein gestellt

Vorbemerkung:
– Im Jahr 2015 setzte der Kanton Neuenburg eine Revision seines Gesundheitsgesetztes in Kraft, mit welcher der Zugang von Organisationen zu subventionierten Pflegeinstitutionen erzwungen werden kann. Organisationen, die notabene den assistierten Suizid anbieten. Dagegeben erhob die Heilsarmee Beschwerde beim Bundesgericht. Am 13. September 2016 fällte nun Letzteres seinen Entscheid, den Sie hier nachlesen können.

Lesen Sie dazu den Gastkommentar von Niklaus Herzog, lic. iur. et theol., ehemaliger juristischer Sekretär der  Kantonalen Ethikkommission des Kantons Zürich:

Bundesgericht: der Heilsarmee ein Bein gestellt

Mit Datum vom 4. November 2014 beschloss der Grosse Rat des Kantons Neuenburg eine Revision des kantonalen Gesundheitsgesetzes. Mit dieser Revision wurden die Institutionen von öffentlichem Interesse (sprich Alters- und Pflegeheime) verpflichtet, in ihren eigenen Räumlichkeiten den Zutritt externer Organisationen (z.B. Exit) zu dulden, um letzteren die Beihilfe zum Suizid von Heiminsassen zu ermöglichen. Gegen diese Gesetzesrevision erhoben die Stiftung Heilsarmee Schweiz sowie die Genossenschaft Sozialwerk Heilsarmee (Betreiberin des Heims „Le Foyer“ in der Stadt Neuenburg) im Sinne einer abstrakten Normenkontrolle Beschwerde an das Bundesgericht. Sie machten eine Verletzung von Art. 15 (Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie von Art. 8 (Rechtsgleichheit) der Bundesverfassung (BV) geltend. Mit Datum vom 13. September 2016 wies das Bundesgericht die Beschwerde ab.

Wie begründet das Bundesgericht im wesentlichen seinen negativen Entscheid? Es ortet zunächst einen Grundrechtskonflikt: jenen der Heiminsassen auf das Recht auf Selbstbestimmung bzw. das Recht auf Suizid einerseits und jenen der betreffenden Institution auf Achtung der Glaubens- und Gewissensfreiheit andrerseits. Dabei gelte es, im Konfliktfall ein ausgewogenes Verhältnis („just équlibre“) zwischen den fraglichen Grundrechten zu finden, dies unter der Prämisse, dass die Bundesverfassung keine Rangordnung unter den Grundrechten kenne (was dasselbe Bundesgericht nicht daran hindert, im gleichen Abschnitt die vom Neuenburger Parlament vorgenommene Hierarchisierung des individuellen Selbstbestimmungsrechts zulasten der Glaubens- und Gewissensfreiheit für rechtens zu erklären…). Das Bundesgericht stellt nicht in Abrede, dass im vorliegenden Fall die Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt wird. Letztere sei aber für die Heilsarmee zumutbar, weil die Suizidbeihilfe durch Dritte gemäss Neuenburger Gesundheitsgesetz nur dann erlaubt sei, wenn die suizidwillige Person über kein eigenes Domizil mehr verfüge oder nicht mehr transportfähig sei. Zudem, so die Rechtsgüterabwägung des Bundesgerichts, müsse die Heilsarmee nicht aktiv am Suizidhilfe-Prozess teilnehmen, sondern sei lediglich zu einem Dulden gezwungen. Schliesslich sei es der Heilsarmee unbenommen, durch einen Verzicht auf den Status einer Institution von öffentlichem Interesse und damit auf Subventionen der geltend gemachten Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit zu entgehen.

Wie ist die Argumentation des Bundesgerichts zu bewerten?

Der eigentlich wunde Punkt in der Argumentation des Bundesgerichts findet sich für einmal atypischerweise bereits im rechts-philosophischen Vorfeld der Grundsatzfrage „Recht auf Selbstbestimmung versus Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit“: Um auf die Beschwerde der Heilsarmee überhaupt materiell eintreten zu können, musste das Bundesgericht vorfrageweise klären, ob sich nicht nur natürliche, sondern auch juristische Personen und damit die Heilsarmee auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen können. Das Bundesgericht hat sich mit dieser Thematik jahrzehntelang schwer getan. Erst im Jahre 1969, also mehr als 120 Jahr nach Gründung des Bundesstaates -und dies auch nur indirekt – konnte sich das Bundesgericht dazu durchringen, zumindest juristischen Personen mit religiöser Zielsetzung das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit zuzugestehen (vgl. BGE 95 I 350 ff.). Dieser Abwehrreflex gegenüber der sog. „korporativen Religionsfreiheit“ (im Gegensatz zu der auf natürliche Personen beschränkten sog. „individuellen Religionsfreiheit“) kommt nicht von ungefähr. Um die ihr bewusst oder unbewusst zugrundeliegende „Mentalreservation“ nachvollziehen zu können, empfiehlt sich ein Blick in die abendländische Kulturgeschichte: Im kommenden Jahr steht die 500. Wiederkehr des Thesenanschlags von Martin Luther bevor – gemeinhin als Beginn der Reformation bezeichnet. Die ihn in seiner ganzen Existenz zutiefst bedrängende, am Ursprung seines theologischen Denkens stehende Frage lautete: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Luther hätte ebenso gut fragen können: „Wie kriegt der Mensch, wie kriegt die Menschheit einen gnädigen Gott?“ Er hat es nicht getan. Seine unilaterale Fokussierung auf das Ich, auf das menschliche Individuum hat auf die europäische Geistesgeschichte eine grosse Wirkung ausgeübt. Bezeichnenderweise dekretieren noch im Jahre 2014 die Autoren Loretan, Weber und Morawa in ihrem Buch „Freiheit und Religion“ apodiktisch: „Die korporative Religionsfreiheit ist kein originäres, sondern ein derivatives Grundrecht. In der westeuropäisch-atlantischen Rechtstradition hat das menschliche Individuum gegenüber jeglichem Kollektiv unbedingten (sic!) Vorrang.“ Demgegenüber gilt es vielmehr, diese individualistische Engführung aufzubrechen und zu einem ausgewogenen Verhältnis der individuums- und gemeinschaftsbezogenen Dimension der Grundrechte vorzustossen. Dies gilt umso mehr, als – wie Bundesrichter (!) Peter Karlen zu Recht kritisiert, die korporativen Aspekte der Religionsfreiheit auch in der neuen Bundesverfassung von 2001 sträflich vernachlässigt werden: „Im Verfassungstext findet die Religionsfreiheit des Individuums also keine Entsprechung auf der gemeinschaftlichen Ebene. Man sucht vergeblich nach einer ausdrücklichen Gewährleistung der sog. korporativen Religionsfreiheit … Die in der neuen Verfassung gewählte individualistische Sicht lässt jedoch ausser Acht, dass der Einzelne seine religiösen Überzeugungen nicht isoliert finden und leben kann.“ (ders. Die korporative religiöse Freiheit in der Schweiz, in: R. Pahud de Mortanges (Hg.), Das Religionsrecht in der neuen Bundesverfassung, Fribourg 2001, S. 33). Für den vorliegenden Fall von besonderer Bedeutung ist Karlen’s Frage, „welche Reichweite einer solchen korporativen Garantie zuzumessen wäre, insbesondere, ob sie sich auch auf religiöse Belange erstrecken würde, die von der individuellen Religionsfreiheit nicht geschützt sind“ (id., S. 34). Immerhin ist trotz des Fehlens einer expliziten Erwähnung der korporativen Religionsfreiheit in der neuen Bundesverfassung in Lehre und Rechtsprechung unbestritten, dass Art. 15 Bundesverfassung eben diese korporative Religionsfreiheit mit umfasst. Peter Karlen geht aber noch einen Schritt weiter: Nicht nur die korporative Religionsfreiheit, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und damit die autonome Regelung der eigenen Angelegenheiten – ob religiöser oder nicht religiöser Natur – ist die logische Folge eines dem zeitgemässen Begriff der Religionsfreiheit verpflichten Staats- und Rechtsverständnisses. Die Rechtsprechung und damit das Bundesgericht sollte demzufolge gemäss Karlen bereits heute ein ungeschriebenes Recht auf Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaften anerkennen. Noch besser wäre ihm zufolge die explizite Zuordnung des Selbstbestimmungsrechts zur Religionsfreiheit im Verfassungstext selbst (vgl. id., S. 40). Diese Chance (und Aufgabe!) wahrzunehmen hat das Bundesgericht mit dem vorliegenden Urteil verpasst. Nicht einmal ansatzweise lässt sich darin der Versuch einer rechtsphilosophischen Durchdringung von Inhalt und Tragweite der korporativen Religionsfreiheit erkennen. Stattdessen begnügt sich das Bundesgericht mit der Auflistung einer simplen Kasuistik. Gemäss ihrem Leitbild versteht sich die Heilsarmee als „Teil der weltweiten christlichen Kirche, die ihre Botschaft auf der Bibel gründet, sich in ihrem Dienst durch die Liebe Gottes motivieren lässt und ihren Auftrag darin erblickt, das Evangelium von Jesus Christus zu predigen und menschliche Not ohne Ansehen der Person zu lindern“. Dass die Heilsarmee dieses Leitbild seit Jahr und Tag in ebenso authentischer wie glaubwürdiger Weise in die Tat umsetzt, braucht nicht eigens betont zu werden. Umso mehr muss sie sich im Wesen getroffen fühlen, wenn sie gezwungen wird, ein ihrem Selbstverständnis bzw. Menschenbild diametral entgegengesetztes Verhalten in ihren eigenen Alters- und Pflegeheimen zu dulden. Das Bundesgericht hält dazu lapidar fest: „Contrairement à ce que prétend la recourante, le noyau intangible de sa liberté de conscience et de croyance n’est partant pas touché“, bleibt aber für diese Behauptung jede Begründung schuldig. Betrieb und Unterhalt eines Alters- und Pflegeheims sind per definitionem sehr kostenintensiv. Sie bleiben selbst bei der Gewährung von Subventionen noch defizitär. Es mutet deshalb geradezu zynisch an, wenn das Bundesgericht der Heilsarmee den Rat auf den Weg gibt, auf den Status einer Institution des öffentlichen Interesses und damit auf staatliche Subventionen zu verzichten, um so von einer Verletzung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit verschont zu bleiben.

Das Bundesgericht vergleicht zudem die Situation von suizidwilligen Personen, welche in Privathaushalten wohnen, mit jenen suizidwilligen Personen, welche in Alters- und Pflegeheimen wohnen. Die Rechtsgleichheit wäre nicht mehr gewährleistet, wenn letztere nicht auch das Recht auf Sterbehilfe durch Dritte in Anspruch nehmen könnten. Ein schiefer Vergleich! Tatsächlich ist niemand gezwungen, seinen Lebensabend im Foyer der Heilsarmee zu verbringen. Vollends ins Abseits hat sich das Bundesgericht mit der Begründung manövriert, es sei hinlänglich bekannt, dass es an genügend Plätzen in Alters- und Pflegeheimen fehle. Wenn der Staat – wozu er, wie das Bundesgericht selbst einräumt, von Rechts wegen nicht verpflichtet ist – Räumlichkeiten zur Verfügung stellen will, in denen suizidwillige Personen die Sterbehilfe in Anspruch nehmen können, hat er sie in eigener Regie zu erstellen, statt den Platzmangel auf dem Buckel einer dem christlichen Menschenbild verpflichteten Institution beheben zu wollen. Abgesehen davon: das Argument des Bundesgerichts, es gäbe ohnehin nur wenige Fälle von suizidwilligen Altersheiminsassen, weshalb der Eingriff in die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Heilsarmee als verhältnismässig zu gelten habe (vgl. Art. 36 Abs. 3 BV), dreht sich just in sein Gegenteil. Ist dem tatsächlich so, wäre es umgekehrt unverhältnismässig, bloss aufgrund weniger Fälle die Heilsarmee zu einer qualitativ so einschneidenden Praxisänderung zu zwingen.

Ausführlich befasst sich das Bundesgericht mit der Tragweite der in Art. 8 Abs. 2 garantierten persönlichen Freiheit bzw. des Selbstbestimmungsrechts. Unter Bezugnahme auf BGE 133 I 58 ff. hält es fest, dass dieses Grundrecht alle Aspekte, die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung bilden, umfasst. Zum Selbstbestimmungsrecht gehört auch das Recht, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden. Allerdings könne, so das Bundesgericht weiter, daraus kein Anspruch des Sterbewilligen auf Beihilfe zum Suizid seitens des Staates oder Dritter abgeleitet werden, auch nicht, wenn er sich ausserstande sehe, seinem Leben selber ein Ende zu setzen. Es handle sich dabei, so das Bundesgericht präzisierend, nicht eigentlich um ein Recht auf den Tod, sondern viel eher um eine Freiheit zum Tod. Dies insofern, als sich ein Recht auf eine Leistung beziehe, die man vom Staat einfordern könne, wohingegen die Freiheit den Respekt vor der Autonomie der Person anvisiere, d.h. einer Wahl, welche der Staat zu garantieren habe. („Il ne s’agit pas d’un droit de mourir, mais bien plutôt d’une liberté de mourir, dans la mesure où un droit porte sur une prestation que l’on peut exiger de l’Etat alors qu’une liberté vise à respecter l’autonomie de la personne, c’est-à-dire un choix qui est garanti par l’Etat.“) Diese Rechtsprechung ist konform mit jener des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bzw. dessen Interpretation von Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens). Allerdings entbehren die Ausführungen des Bundesgerichts jeglicher kritischen rechtsphilosophischen Auseinandersetzung mit dem in Gesellschaft und Staat zunehmend überstrapazierten Begriff „Selbstbestimmung“. Gerade am Ende des Lebens kann von einer real existierenden Selbstbestimmung nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Das Geflecht sich potenzierender vielfältiger Abhängigkeiten physischer wie psychischer Natur ist mit zunehmender Nähe zum Todeszeitpunkt evident. Eine vertiefte Reflexion über Stellenwert und Tragweite des Begriffs „Selbstbestimmung“ wäre umso dringender gewesen, als der vorstehend skizzierte aktuelle, ohnehin schon poröse Stand der Rechtsprechung offensichtlich noch mehr zu erodieren droht: Das Bundesgericht verweist in diesem Kontext auf den ominösen Satz gewisser Autoren, denen zufolge „die Zeit reif sei“, aus Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention einen direkten, an den Staat gerichteten Rechtsanspruch auf Beihilfe zum Suizid abzuleiten.

Fazit

Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung der diesem Bundesgerichtsentscheid zugrundeliegenden Thematik wie auch seiner offenkundigen Begründungsdefizite ist ein Weiterzug an den Europäischen Gerichtshof im Prinzip angezeigt. Auf sog. abstrakte Normenkontrollen wie vorliegend der Fall tritt jedoch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nur in Ausnahmefällen ein. Vorzuziehen wäre deshalb, einen konkreten Einzelfall abzuwarten bzw. diesbezüglich eine anfechtbare Verfügung zu erwirken. Wie Patrick Warto in seinem Buch „Die korporative Religionsfreiheit in der Rechtsprechung des EGMR“ (Saarbrücken 2009) nachweist, verwischt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt die Interessen einer Religionsgemeinschaft als solcher mit jenen ihrer einzelnen Mitglieder (vgl. ibid., S. 19f.). Aufgrund einer sorgfältigen Analyse der einschlägigen Gerichtsurteile gelangt er aber zum Schluss, dass der Europäische Gerichtshof zumindest implizit die korporative Religionsfreiheit als von Art. 9 EMRK garantiertes Grundrecht anerkennt. „Die weitere Rechtsprechung wird zeigen“, so Patrick Warto, „ob es zu einer begrüssenswerten deutlicheren Aussage zur Verankerung eines korporativen Aspektes im Rahmen der Religionsfreiheit kommen wird“ (id. S. 120). Die Anhandnahme des vorliegenden Falles wäre für den Europäischen Gerichtshof die ideale Gelegenheit, seine diesbezüglich Position zu klären und gleichzeitig eine zeitgemässe, der korporativen Religionsfreiheit gerecht werdende Spruchpraxis aufzugleisen.

Niklaus Herzog / Dezember 2016

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